Vortrag
Am Grunde des Kapitalismus liegt der Versuch, Sex loszuwerden, so postuliert Lacan in seinem einzigen Fernsehinterview 1973. Wie verhält sich diese Aussage zur heute gängigen Auffassung, wonach die sexuelle Differenz als Gipfel und Inbegriff der heterosexuellen Matrix zu dekonstruieren sei? Während für die aus den us-amerikanischen Cultural Studies stammende Gender- und Queer-Theorie die sexuelle Differenz der Befreiung multipler Identitäten im Wege steht, entspricht dieses Anliegen aus der Sicht der neueren Lacan-Rezeption einem nicht reflektierten Über-Ich-Befehl, einer angeblichen Pluralität in uns gerecht zu werden. Weit davon entfernt, einem emanzipatorischen Ansinnen entgegenzustehen, gilt deshalb der heutigen Lacan-Rezeption die sexuelle Differenz als jene Negativität, deren Auslöschung die subjekttheoretische Voraussetzung der kapitalistischen Akkumulationslogik schlechthin darstellt.
Verkompliziert wird diese Diskussion durch den Umstand, dass Lacan selbst den Begriff der sexuellen Differenz kaum verwendet. Er spricht vom »nicht-existierenden Geschlechtsverhältnis«. Es ist davon auszugehen, dass der Begriff der sexuellen Differenz durch Luce Irigaray in die Lacan-Rezeption Eingang fand, die damit jedoch eine dezidierte Kritik an Lacans Geschlechtertheorie und hier insbesondere an der darin vorgesehenen Position der Mutter verband. Warum der Begriff, jedoch nicht Irigarays Kritik, in die Rezeption Eingang fand, ist eines der Rätsel, dem der Vortrag nachgehen will. Er versteht sich als Werkstattgespräch und gibt Einblick in die gegenwärtige Fragestellung der Vortragenden.
Moderation: Michaela Wünsch
Eintritt: 10/5 €
Tove Soiland studierte Geschichte und Philosophie in Zürich. Sie ist Lehrbeauftragte an verschiedenen Universitäten und bietet bei der Gewerkschaft VPOD in Zürich seit Jahren Seminare für Frauen zu feministischer Theorie an. 2008 promovierte sie an der Universität Zürich zu »Luce Irigarays Denken der sexuellen Differenz. Eine dritte Position im Streit zwischen Lacan und den Historisten«. 2009 schrieb sie für das Stadttheater Bern die szenische Lesung »Nehmen Sie Ihr Gender selbst in die Hand, Madam!«. Sie ist Mitglied des Beirates der Zeitschrift Widerspruch.
Ihre heutigen Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich Feministische Theorie, französische Psychoanalyse und Marxismus. 2003 initiierte sie den »Gender-Streit«, eine Kontroverse um die theoretischen Grundlagen des Gender-Begriffs. Im WS 2016/17 hat sie die Klara-Marie-Faßbinder Gastprofessur an der Hochschule Ludwigshafen inne. 2016 erhielt sie für ihr feministisches Engagement den Ida-Somazzi-Preis.