Veranstalter: Freud-Lacan-Gesellschaft, Berlin
Leitung: Claus-Dieter Rath (seminar-rathcd@t-online.de)
Nächste Termine: Samstag, 07. Mai, 11. Juni – jeweils 17:00 bis 19:00 Uhr -Auch Online-
Liebe Teilnehmer und Interessenten,
die Sitzung dieses Seminars findet Samstag, 7. Mai 2022 nur online via ZOOM statt.
Wer teilnehmen möchte, melde sich per E-Mail an (bei Seminar-RathCD@t-online.de). Sie erhalten wenige Tage vorher eine Einladung mit einem Teilnahmecode.
Die Veranstaltung beginnt 17.15h. Sie können sich aber schon ab 17.00h einklinken.
In den folgenden Monaten wird das Seminar je nach Stand der Vorsichtsmaßnahmen im Zusammenhang mit der Covid-Pandemie auch in der Psychoanalytischen Bibliothek Berlin (PsyBi) stattfinden, als Hybrid-Veranstaltung, d.h. mit Einbezug der auswärtigen Teilnehmer via Online-Konferenz.
Samstag, 7. Mai 2022 (17.15h – 19h):
Diesmal befragen wir Abhängigkeiten, Unabhängigkeit und Interdependenz vom Begriff der Erfahrung her. Seine Mehrwertigkeit lässt Walter Benjamin in zwei Texten besonders zu Tage treten: „Erfahrung“ (1913, der Titel steht in Anführungszeichen) und Erfahrung und Armut (1933) [vgl. Auszüge hier unten].
Zum einen denunziert Benjamin das autoritäre Erfahrenheits-Gehabe derjenigen, die glauben, nichts mehr erfahren zu können/zu müssen, weil sie schon erfahren „sind“. Sie berufen sich auf einen kitschigen, klischee- und vorurteilsbeladenen Erfahrungsschatz; eine resignative Abwehr gegen das, was die Jugend erfahren kann.
Zum anderen diagnostiziert Benjamin einen zivilisationsbedingten Zerfall von übermittelbarer, erzählbarer Menschheitserfahrung, eine neuartige Erfahrungsarmut.
Zugleich begrüßt er eine ›arme‹, nicht überladene Erfahrung, Erfahrung von Neuem, die sich über die aktuelle Neuigkeit erhebt und Geschichtliches, Gesellschaftliches und Subjektives verbindet – jenseits übernommener Spruchweisheiten und diesseits des Traumas und pein- oder lustvoller Reizschocks.
Diese Sicht erinnert an das von uns geschätzte Moment der Überraschung bzw. des Überraschtseins in einer psychoanalytischen Kur – anlässlich einer eigenen Äußerung, in der etwas Weiterführendes aufscheint, dank dessen ein durcharbeitendes Aneignen in Gang kommen kann.
Wir sind – und wir machen uns – von Erfahrung unterschiedlicher Ordnung abhängig oder
Are you experienced?
Unsere Abhängigkeit von der Erfahrung und ihren Wechselfällen, wie Walter Benjamin sie erschließt.
Eine ethische Dimension der Erfahrung unterscheidet sich von der Summe des uns Zugestoßenen oder von empirischem bzw. experimentellem Tatsachenwissen. Für Benjamin entspricht die Lebenserfahrung nicht dem naturwissenschaftlichen Modell von „im Lauf der Zeiten festgestellten Kausalverknüpfungen“, sondern verdankt sich der Wahrnehmung gelebter Ähnlichkeit(en).
Ähnlichkeitsrelationen sind in der Freud’schen Psychoanalyse (seit dem Entwurf einer Psychologie und der Traumdeutung) ein Dreh- und Angelpunkt der Logik des Unbewussten.
Aus diesen Zusammenhängen ergeben sich Fragen nach dem Schicksal alter und neuerer psychischer Bahnungen, nach vorgängiger oder nachträglicher Sexualisierung von Eindrücken und Vorstellungen, nach den Wirkungen der herrschenden Zensur, nach dem Phantasma und nach dem Wiederholungszwang.
Expérience analytique umfasst also auch die Analyse der Erfahrung.
„Unseren Kampf um Verantwortlichkeit kämpfen wir mit einem Maskierten. Die Maske des Erwachsenen heißt »Erfahrung«. Sie ist ausdruckslos, undurchdringlich, die immer gleiche. Alles hat dieser Erwachsene schon erlebt: Jugend, Ideale, Hoffnungen, das Weib. Es war alles Illusion. - Oft sind wir eingeschüchtert oder verbittert. Vielleicht hat er recht. Was sollen wir ihm erwidern? Wir erfuhren noch nichts.
Aber wir wollen versuchen, die Maske zu heben. Was hat dieser Erwachsene erfahren? Was will er uns beweisen? Vor allem eins: auch er ist jung gewesen, auch er hat gewollt, was wir wollten, auch er hat seinen Eltern nicht geglaubt, aber auch ihn hat das Leben gelehrt, daß sie recht hatten. Dazu lächelt er überlegen: so wird es uns auch gehen - im voraus entwertet er die Jahre, die wir leben, macht sie zur Zeit der süßen Jugendeseleien, zum kindlichen Rausch vor der langen Nüchternheit des ernsten Lebens.“ (Benjamin 1913, Gesammelte Schriften II, 1, S. 54)
„Man wußte auch genau, was Erfahrung war: immer hatten die älteren Leute sie an die jüngeren gegeben. In Kürze, mit der Autorität des Alters, in Sprichwörtern; weitschweifig mit seiner Redseligkeit, in Geschichten; manchmal als Erzählung aus fremden Ländern, am Kamin, vor Söhnen und Enkeln. - Wo ist das alles hin? Wer trifft noch auf Leute, die rechtschaffen etwas erzählen können? [...]
Nein, soviel ist klar: die Erfahrung ist im Kurse gefallen und das in einer Generation, die 1914-1918 eine der ungeheuersten Erfahrungen der Weltgeschichte gemacht hat. [...] die Leute kamen verstummt aus dem Felde? Nicht reicher, ärmer an mitteilbarer Erfahrung.
[...] Eine ganz neue Armseligkeit ist mit dieser ungeheuren Entfaltung der Technik über die Menschen gekommen. Und von dieser Armseligkeit ist der beklemmende Ideenreichtum, der mit der Wiederbelebung von Astrologie und Yogaweisheit, Christian Science und Chiromantie, Vegetarianismus und Gnosis, Scholastik und Spiritismus unter - oder vielmehr über - die Leute kam, die Kehrseite. Denn nicht echte Wiederbelebung findet hier statt, sondern eine Galvanisierung. [...] unsere Erfahrungsarmut ist nur ein Teil der großen Armut, die wieder ein Gesicht - von solcher Schärfe und Genauigkeit wie das der Bettler im Mittelalter - bekommen hat. Denn was ist das ganze
Bildungsgut wert, wenn uns nicht eben Erfahrung mit ihm verbindet? [...] Diese Erfahrungsarmut ist Armut nicht nur an privaten sondern an Menschheitserfahrungen überhaupt. Und damit eine Art von neuem Barbarentum. / Barbarentum? In der Tat. Wir sagen es, um einen neuen, positiven Begriff des Barbarentums einzuführen. Denn wohin bringt die Armut an Erfahrung den Barbaren? Sie bringt ihn dahin, von vorn zu beginnen; von Neuem anzufangen; mit Wenigem auszukommen; aus Wenigem heraus zu konstruieren und dabei weder rechts noch links zu blicken.“
(Benjamin 1933, Gesammelte Schriften II, 1, S. 214f.)
Zur Lektüre empfohlen:
Walter Benjamin: „Erfahrung“ (1913). Gesammelte Schriften (Frankfurt a.M.: Suhrkamp) II, 1, S. 54-56.
Walter Benjamin: Erfahrung und Armut (1933). Gesammelte Schriften (Frankfurt a.M.: Suhrkamp) II, 1, S. 213-219
Letzteres auch im Internet: https://www.textlog.de/benjamin-erfahrung-armut.html
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Von psychoanalytischen und politischen Erfahrungen ausgehend erkunden die Teilnehmer dieses Seminars Erscheinungen, Strukturen und Vorstellungen der Abhängigkeit, Unabhängigkeit und Interdependenz.
Abhängig sind wir von anderen Personen, von gesellschaftlichen Verhältnissen und Institutionen, von den Naturgewalten und deren Zähmung, von Arbeit (und Kulturarbeit), von nährenden, heilenden, zerstörenden Substanzen, vom Trieb und dessen Transformationsmöglichkeiten oder von Zwangshandlungen, die den Trieb und die Angst in Schach halten sollen. Und überhaupt von logischen Voraussetzungen. Freud untersuchte Bauweise und Funktionen der Psyche beispielsweise im Hinblick auf die „Abhängigkeiten des Ichs“ (Kap. 5 von Das Ich und das Es).
Diese Dimensionen betreffen uns auf verschiedene Weisen: als biologische Abhängigkeit des Menschen-Babys, die Abhängigkeit von Liebe, als Anerkennung unseres Begehrens und unserer Präsenz in einer Gemeinschaft, die uns als ihr Mit-Glied anerkennt. Generell die Abhängigkeit von einer symbolischen Ordnung als symbolischer Stütze: anti-inzestuöse Grenzsetzungen, Sprache, Kulturordnung, Väterliche Metapher, Wissen.
Dabei differieren das objektiv Feststellbare und subjektive Überzeugungen, also Illusionen, Ignoranz und Verkennung von Abhängigkeit und Unabhängigkeit: „Ich kann mir das ... (nicht) erlauben“, „Ich kann jederzeit aufhören“, „Ich bin mein eigener Herr“, bis hin zu den Äußerungen masochistischer Komponenten des Sexualtriebs in der „gläubigen Gefügigkeit“ (Freud), dem „lustvollen Gehorchen“ (Ferenczi) und der „Freiwilligen Knechtschaft“, die Etienne de la Boétie schon Mitte des 16. Jahrhunderts beschrieben hat.
Die psychoanalytische Kur hat mit einem Paradox zu kämpfen, denn eines ihrer Ziele lautet: Verantwortung übernehmen können für die eigenen Akte und Wahlentscheidungen – doch kommt
dieser Emanzipationsprozess, dessen Dynamik von derÜbertragungals Motor und Instrument bestimmt wird, nicht ohne neuerliche, massive Abhängigkeit aus.
Jede Konzeption desIchs(in seiner behaupteten Autonomie und in seiner Abhängigkeit) und des Subjekts (als unterworfenem und als souveränem) siedelt in diesem Spannungsfeld.
Eine funktionierende Interdependenz ist die innere Voraussetzung des Freud’schen Ideals einer menschlichen Arbeitsgemeinschaft, die auf Liebesbindungen, Identifizierungen und Triebeinschränkungen gründet (vgl. Freuds Begriff der ‚Kulturarbeit‘).
Literaturhinweise:
Sigmund Freud (1921c). Massenpsychologie und Ich-Analyse. In GW 13, S. 71-161; StA 9, S. 65-134.
Sigmund Freud (1923b). Das Ich und das Es. In GW 13, S. 237-289; StA 3, S. 282-325.
Étienne de La Boétie: Von der freiwilligen Knechtschaft (zweisprachig). Übers. u. hg. v. Horst Günther. EVA, Frankfurt/M. 1980 (im Anhang: "Quellen, Umkreis, Wirkung") (u.a. Ausgaben; die Übersetzung von G. Landauer, 1910, ist als kindle e-book gratis erhältlich).
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Die weiteren Samstags-Termine (immer 17-19h) im ersten Halbjahr 2022:
11. Juni: Wir sind abhängig von Anerkennung. Unter welchen Bedingungen können wir Abhängigkeiten anerkennen?
Zur Lektüre empfohlen:
Beiträge im Themenheft „Anerkennung“ von RISS. Zeitschrift für Psychoanalyse Heft 66 (2007; 2).
Axel Honneth (2010): Das Ich im Wir. Studien zur Anerkennungstheorie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp
Axel Honneth, mit Jacques Rancière: Anerkennung oder Unvernehmen? Eine Debatte. Suhrkamp: Berlin 2021
Axel Honneth und Inara Luisa Marin (Interview 2009): European Journal of Psychoanalysis (2015). https://www.journal-psychoanalysis.eu/interview-with-axel- honneth/
Joel Whitebook: Winnicott fehlgedeutet. Axel Honneths Gebrauch der Psychoanalyse. In: PSYCHE. Februar 2022, 76. Jahrgang, Heft 2, S. 97-138.
Voraussichtliche Termine nach den Sommerferien:
3. September 8. Oktober
5. November 3. Dezember
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Teilnahmegebühr:
Sitzung (Studenten u. Arbeitslose 5€)
Wer nicht Mitglied der Freud-Lacan-Gesellschaft (FLG) ist, bezahlt .
10€ pro
Hier die :
IBAN: DE67 1004 0000 0572 7128 00
BIC: COBADEFFXXX (Commerzbank Berlin).
Freud-Lacan-Gesellschaft (www.freud-lacan-berlin.de; auch in facebook) Das aktuelle Programm auf der Internetseite der FLG
Kontakt: Claus-Dieter Rath, Niebuhrstr. 77, 10629 Berlin (Seminar-Mailadresse: Seminar-RathCD@t-online.de )