Die Gewalt des Sexuellen und das Sexuelle der Gewalt
U.a. bezogen auf Sándor Ferenczis „Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind (Die Sprache der Zärtlichkeit und der Leidenschaft)“.
In der psychoanalytischen Erfahrung, im psychoanalytischen Diskurs, ist Gewalt – bezogen auf physische Zerstörung, Autoritätsverhältnisse und Herrschaftsstrukturen – auch dort etwas Sexuelles, wo sie nicht als sexuelle Gewalt erscheint.
Die Psychoanalyse befasst sich in erster Linie mit dem sexuellen Charakter verschiedener Gewaltformen. Psychoanalytiker hören Schilderungen realer Gewaltpraktiken, struktureller Gewalt (in Familien, an Arbeitsstätten und in anderen Institutionen) und masochistischer und sadistischer Phantasmen wie »Ein Kind wird geschlagen« (vgl. Freud, 1919e). Vor allem aber – und deutlicher, als dies Soziologen oder Kulturphilosophen feststellen können – werden wir Zeugen der Gewalt der einzelnen Sexual- und Todestriebe, der Wiederholung, der Verdrängung, der Zwangsbildungen.
Ferenczi, Sándor [1933]: Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind (Die Sprache der Zärtlichkeit und der Leidenschaft). In Bausteine zur Psychoanalyse. Bd. III: Arbeiten aus den Jahren 1908-1933. Frankfurt a. M./Berlin/Wien: Ullstein Materialien 1984, S. 511-525.
Von psychoanalytischen und politischen Erfahrungen ausgehend erkunden die Teilnehmer dieses Seminars Erscheinungen, Strukturen und Vorstellungen der Abhängigkeit, Unabhängigkeit und Interdependenz.
Abhängig sind wir von anderen Personen, von gesellschaftlichen Verhältnissen und Institutionen, von den Naturgewalten und deren Zähmung, von Arbeit (und Kulturarbeit), von nährenden, heilenden, zerstörenden Substanzen, vom Trieb und dessen Transformationsmöglichkeiten oder von Zwangshandlungen, die den Trieb und die Angst in Schach halten sollen. Und überhaupt von logischen Voraussetzungen. Freud untersuchte Bauweise und Funktionen der Psyche beispielsweise im Hinblick auf die „Abhängigkeiten des Ichs“ (Kap. 5 von Das Ich und das Es).
Diese Dimensionen betreffen uns auf verschiedene Weisen: als biologische Abhängigkeit des Menschen-Babys, die Abhängigkeit von Liebe, als Anerkennung unseres Begehrens und unserer Präsenz in einer Gemeinschaft, die uns als ihr Mit-Glied anerkennt. Generell die Abhängigkeit von einer symbolischen Ordnung als symbolischer Stütze: anti-inzestuöse Grenzsetzungen, Sprache, Kulturordnung, Väterliche Metapher, Wissen.
Dabei differieren das objektiv Feststellbare und subjektive Überzeugungen, also Illusionen, Ignoranz und Verkennung von Abhängigkeit und Unabhängigkeit: „Ich kann mir das ... (nicht) erlauben“, „Ich kann jederzeit aufhören“, „Ich bin mein eigener Herr“, bis hin zu den Äußerungen masochistischer Komponenten des Sexualtriebs in der „gläubigen Gefügigkeit“ (Freud), dem „lustvollen Gehorchen“ (Ferenczi) und der „Freiwilligen Knechtschaft“, die Etienne de la Boétie schon Mitte des 16. Jahrhunderts beschrieben hat.
Die psychoanalytische Kur hat mit einem Paradox zu kämpfen, denn eines ihrer Ziele lautet: Verantwortung übernehmen können für die eigenen Akte und Wahlentscheidungen – doch kommt dieser Emanzipationsprozess, dessen Dynamik von der Übertragung als Motor und Instrument bestimmt wird, nicht ohne neuerliche, massive Abhängigkeit aus.
Jede Konzeption des Ichs (in seiner behaupteten Autonomie und in seiner Abhängigkeit) und des Subjekts (als unterworfenem und als souveränem) siedelt in diesem Spannungsfeld.
Eine funktionierende Interdependenz ist die innere Voraussetzung des Freud’schen Ideals einer menschlichen Arbeitsgemeinschaft, die auf Liebesbindungen, Identifizierungen und Triebeinschränkungen gründet (vgl. Freuds Begriff der ‚Kulturarbeit‘).
Literaturhinweise:
Sigmund Freud (1921c). Massenpsychologie und Ich-Analyse. In GW 13, S. 71-161; StA 9, S. 65-134.
Sigmund Freud (1923b). Das Ich und das Es. In GW 13, S. 237-289; StA 3, S. 282-325. Étienne de La Boétie: Von der freiwilligen Knechtschaft (zweisprachig). Übers. u. hg. v. Horst Günther. EVA, Frankfurt/M. 1980 (im Anhang: "Quellen, Umkreis, Wirkung"), (u.a. Ausgaben; die Übersetzung von G. Landauer, 1910, ist als kindle e-book gratis erhältlich).